Artenvielfalt kommt auf sechs Beinen daher

Am 22. Mai war Internationaler Tag der biologischen Vielfalt. Der Gedenktag erinnert an den 22. Mai 1992, an dem der Text des Übereinkommens über die biologische Vielfalt von den Vereinten Nationen offiziell angenommen wurde. Das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD) ist wohl das wichtigste internationale Abkommen im Bereich Naturschutz und nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen. Der Tag geht seit fast dreißig Jahren an den den meisten Naturschutzorganisationen spurlos vorbei. Die Praktiker feiern Mitte Juni, wenn es auch was zu sehen gibt.

Mehr als 450 Arten sind mittlerweile auf der AGNU-Ökowiese gefunden worden. (Bild: observation.org)

Mitte Mai ist als fester Termin bei Naturfreunden, Artenkennern und Fotografen unbeliebt, die Gefahr, dass Veranstaltungen buchstäblich ins Wasser fallen, ist sehr groß. Hier hält man sich lieber an etablierte Termine wie den GEO-Tag der Natur (2. Wochenende im Juni) oder startet es gleich als neumodischen „Bioblitz“ bei stabiler Wetterlage. Jedenfalls ist um Mitte Juni herum die Phase, in der man in der freien Natur die meisten Arten finden kann, und die artenreichsten Tiergruppen finden sich bei den Insekten. Zu den „Big Five“ der artenreichsten Organismengruppen zählen Käfer, Fliegen und Mücken, Hautflügler, Schmetterlinge und die Schnabelkerfe (Wanzen und Zikaden).

Wie siehts in der Region aus?

Das Insektensterben ist in aller Munde, und auch im Rheinland und im Bergischen rund um Haan wird fleißig gestorben. Landwirtschaft die ihren Namen nicht verdient, Flächenverbrauch für Verkehr und Bebauung, falsche Pflege und sinnlose Zerstörung der Restbiotope, die Liste der Gründe ist lang, die Artenlisten im Gebiet entsprechend kurz. Wer sich dafür interessiert, der kann sich das für die einzelnen Biotoptypen genauer anschauen, die Region ist ziemlich gut untersucht und die Datenlage reicht mehr als 160 Jahre zurück.

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir viele Arten in der Region verloren, besonders im Offenland, in den Wäldern sieht es viel besser aus. Der Klimawandel bringt uns gleichzeitig neue oder lange verschollene Tierarten zurück, zum Beispiel den Eichenprozessionsspinner. Die Globalisierung spendet auch immer wieder Formen, auf die man gerne verzichten würde. Als Beispiel sei hier der Buchsbaumzünsler genannt.

Naturschutz im Ballungsraum

Die AGNU Haan e.V. betreut und entwickelt seit Jahrzehnten etliche Flächen auf Haaner Gebiet, unter anderen die ehemaligen Steinbrüche Grube 7 und Grube 10. Die Mitglieder organisieren Streuobstwiesen- und Kopfweidenpflege, betreuen zahllose Nisthilfen, führen Exkursionen durch, sammeln Müll und engagieren sich darüber hinaus in zahlreiche naturwissenschaftlichen Vereinen wie dem Naturwiss. Verein Wuppertal. Als sogenannte „Träger öffentlicher Belange“ nimmt der Verein zudem Stellung zu vielen Planungsvorhaben und versucht damit der weiteren Umweltzerstörung, dem massiven Flächenverbrauch, dem Klimawandel und Artensterben die Stirn zu bieten.

An dieser Stelle wollen wir diese Frage mal umkehren und fragen, was OHNE den Einsatz der AGNU-Mitglieder auf Haaner Gemarkung an erlebbarer Landschaft, Artenvielfalt und Lebensraum für Tiere und Pflanzen noch übrig wäre. Im Durchschnitt gehen in Nordrhein-Westfalen noch immer mehr als 10 Hektar Freiraum durch neue Wohn- und Gewerbegebiete, Straßenbau, Tagebau, Kies-Abbau und andere Abgrabungen unwiederbringlich verloren. Tag für Tag! Und nach vielen Jahren unter SPD-Regierungen machen es Schwarze und Gelbe nicht besser: Mit der Streichung des Fünf-Hektar-Zieles aus dem Landesentwicklungsplan haben CDU und FDP 2019 auch die Aussicht auf Besserung beerdigt.

Der Kreis Mettmann ist mit 485.000 Einwohnern auf gut 400 Quadratkilometern Kreisfläche der Landkreis mit der höchsten Bevölkerungsdichte in Deutschland. Überall im Außenbereich wimmelt es von Spaziergängern und Joggern, Pferden und Reitern, Mountainbikern, Hundespaziergängern samt Hinterlassenschaften. Für den Naturschutz bleibt nur Restflächenverwaltung, da hilft auch kein Neanderlandsteig (der übrigens auffallend oft an den von der AGNU gepflegten Gebieten entlang führt).

Bringt das denn was?

Am Beispiel der „Ökowiese Kriekhausen“ möchte ich an dieser Stelle einmal etwas tiefer einsteigen. Zur Erinnerung: Der Stadtrat von Haan hat im Jahr 2007 beschlossen, eine etwa 13 Hektar große Fläche zwischen Gruiten und der A46 zu „entwickeln“, wie das so schön heißt. Die Planung stammte noch aus den 90er Jahren. Heute stehen dort, wo früher Kiebitz und Schafstelze brüteten, einige mehr oder weniger hübsche Industriehallen.

Die AGNU hat 2018 die Pacht einer ehemaligen Ackerfläche übernommen, als sogenannte „Ausgleichsfläche“ für den 2. Bauabschnitt des Industriegebiets, das einmal,  vermarktungsförderlich, „Technologiepark Champagne 2“ heißen sollte. Die Stadt als Planungsträger half bei der Einsaat, sicherte das Gelände mit einem Zaun gegen ungebetene Besucher, 2018, 2019 und 2020 gabe es durch die trockenen Frühjahrsmonate reichlich Insekten, dafür um so weniger Heu-Ertrag.

Die Fläche liegt zwischen Industriegebiet und Autobahn, nachts strahlen die Flutlichter des Industriegebiets, es gibt massig Lärm, Müll und – überraschend hohe Artenvielfalt.

Woher wir das wissen? Seit Beginn der Einsaat versuchen wir den Zustand der Ökowiese Kriekhausen zu erfassen und dokumentieren, unterstützt von Botanikern der Biostationen und des Bochumer Botanischen Vereins. Schon bei der Einsaat wurde auf sogenanntes „Regional-Saatgut“ geachtet, wer Details dazu wissen möchte, der findet sie auf den Seiten von Rieger-Hofmann, dem größten Anbieter von zertifiziertem Wildsaatgut.

Von Acker-Witwenblume bis Wilde Möhre waren so schon mal mehr als 30 Gefäßpflanzen-Arten im Saatgut enthalten, hinzu kamen zahlreiche Ackerwildkräuter, die der Glyphosatspritze der Vornutzer entgangen waren. Der Acker-Schachtelhalm beispielsweise und viele andere „Unkräuter“ waren schon in der Fläche zu finden, Arten wie der Zottige Klappertopf wurde zusätzlich eingebracht, das Saatgut stammt aus Dormagen. Momentan sind auf der Gesamtfläche mehr als 130 Pflanzenarten kartiert worden, besonders spektakulär ist der Blütenaspekt der Margeriten, der sich sogar auf Satellitenbildern durch die weiße Farbe hervorhebt.

Insgesamt erfüllte die Fläche praktisch aus dem Stand heraus die Kriterien des Landesamts für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (LANUV) für hochwertiges Grünland. Das ist allerdings keine große Kunst, man kauft es sich praktisch mit der Samenmischung. Die Kartieranleitungen des LANUV sind im übrigen ein hüscher Hokuspokus, und nur etwas für hartgesottene, man muss Lizenzgebühren zahlen um die überkomplexe Software installieren zu dürfen, und die dahinter liegende Datenbank ist nicht öffentlich zugänglich.

Digitales Notizbuch

Das alles geht einen ehrenamtlich tätigen Verein nichts an, und so haben wir uns nach einer Möglichkeit umgeschaut, die Entwicklung der Fläche und Erfolgskontrolle der Maßnahmen transparent und frei zugänglich zu dokumentieren. Die Antwort lautet: observation.org. Die Webseite mit dahinter liegender Datenbank bietet Laien und Profis fast alle Möglichkeiten, ihre Beobachtungen und Fotos zusammen mit den Verbreitungsdaten zu einem Digitalen Notizbuch zusammenzustellen. Zugehörige Handy-Apps bieten Bestimmungshilfe, Schulungs-Videos, professionelle Betreuung der Tier- und Pflanzengruppen durch ein Expertenteam .- und alles umsonst!

Ökowiese Kriekhausen: Entwicklung der bei observation.org registrierten Artenzahlen

Wie man aus der Grafik oben ersehen kann sind mittlerweile mehr als 450 Arten auf dem Gelände der Ökowiese dokumentiert worden, sehr viele davon mit Fotos. Man sieht die Artenzahlen über die vergangenen Jahre wie in Treppenstufen ansteigen, im Sommerhalbjahr steigen die Zahlen rasch, im Winterhalbjahr kommt oft monatelang nichts neues dazu. Die Hauptverdächtigen AGNU-Mitglieder, die diese Beobachtungen zuliefern, sind Sigrid und Joop van de Sande, Uwe Raabe, Dick Schakel und der Autor dieser Zeilen. Hinzu kamen ein paar Profi-Botaniker vom Bochumer Verein und Mitarbeiter von verschiedenen Biostationen.

Fuchs, Hase, Dachs, Reh, ein paar Mäusearten, bei den Säugetieren kommt man nicht auf große Zahlen, es sind nur etwa 80 Arten in NRW nachgewiesen, inclusive der Fledermäuse. Was in der Wiese irgendwie fehlt sind Allerweltsarten wie der Maulwurf, der einfach den Weg noch nicht gefunden hat. 37 Vogelarten machen den Kohl auch nicht fett, bemerkenswert führen Turmfalke, Mäusebussard und Graureiher die Liste der Beobachtungen auf der Ausgleichsfläche an, die leben gut von den bereits erwähnten Mäusen. Auf dem Zug ist das Braunkehlchen regelmäßig zu sehen, nutzt die Fläche für ein paar Tage. Eine einsame Feldlerche brütet im dritten Jahr hintereinander am Rand unserer Fläche, wahrscheinlich sind auf Haaner Gebiet weniger als fünf Brutpaare übrig, eine Schande der besonderen Art. Kiebitz und Schafstelze haben wie erwartet den Abgang gemacht, der „Ausgleich“ muss auf andere Weise erfolgen, das lässt sich nicht schönreden.

Knapp 40 Arten nachgewiesene Fliegen, die meisten davon Schwebfliegen: Hier zeigt sich die Tücke der Objekte. Fliegen zu bestimmen ist nicht gerade einfach, es gibt tausende von Arten, und kaum jemand kennt sich aus damit. Das betrifft auch das gute Dutzend nachgewiesenen Käferarten, hier haben wir die Oberfläche der Artenvielfalt erst angekratzt. Auf die 29 Tagfalterarten, die in Kriekhausen nachgewiesen wurden, können wir schon ein wenig stolz sein! Mehr geht im Kreis Mettmann kaum. Aber Glück war auch dabei, der Schwalbenschwanz zum Beispiel vermehrte sich in den trockenen Jahren 2018-2020 ganz prächtig und wurde vielfach fotografiert. Die Tagaktiven Insekten nutzen das gigantische Blütenangebot der Wiese, und sei es auch nur auf der Durchreise, wie zum Beispiel beim Distelfalter, der riesige Entferungen zurücklegen kann.

Etwas besser sieht es bei den Nachtfaltern aus, das ist mein Spezialgebiet, und auch da ist über die Jahre mit dem drei- bis vierfachen der bisher nachgewiesenen 140 Arten zu rechnen. Die meisten Nachtschmetterklinge („Motten“) kartiert man mittels Lichtfang, undwir haben erst ein paar wenige Abende genutzt um das Spektrum an Arten zu erfassen. Immerhin gelangen dabei ein paar bemerkenswerte Nachweise, zum Beispiel vom Nachtkerzenschwärmer oder der Gelben Leimkrauteule, von der es erst drei Nachweise aus NRW gibt. Zwei davon stammen aus dem üppig blühenden Randstreifen entlang der „Ökowiese“.

Vermehrt sich im Randstreifen entlang der Niederbergischen Allee: Gelbe Leimkrauteule Conisanio luteago. 20. Juni 2020 (Foto: Dahl)

Insgesamt muss man damit rechnen dass die Artenvielfalt weiter zunimmt, jedenfalls wenn wir die Fläche weiter so behandeln wie geplant: Später und hoher Wiesenschnitt inklusive Refugialflächen und Altgrasstreifen, keine Düngung, kein Walzen und Schleppen, großzügige jährlich wechselnde Brachstreifen rundum. Und natürlich reichlich Beobachtungszeit und Dokumentation.

Aus vielen Organismengruppen haben wir noch keinerlei Daten, die Pilze zum Beispiel versprechen noch eine lange Artenliste, wenn sich mal ein Spezialist der Sache annimmt. Eine wenig beachtete Gemeinschaft von Land-Gehäuseschnecken sind typische Wiesenbewohner, aber diese Arten müssen wir wohl künstlich einbringen, die kommen nicht so leicht über die A46 ins Gebiet wie die Fluginsekten. Nicht alles vom Saatgut ist aufgegangen, und einige Arten müssen wir wohl in Töpfen vorziehen und auspflanzen. Und alles soll nach Möglichkeit aus der Region kommen, ohne Faunen- und Florenverfälschung, mit genetisch an die hiesigen Bedingungen angepasstem Saatgut. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Wer hier eine Idee hat oder mit Mahdgut aus der Region helfen kann, oder „nur“ eine Spende in die AGNU-Kasse leistet: Wir sagen Danke und bleiben dran!

Wir sehen uns dann!

Der Sommer 2021 hat sich Zeit gelassen, aber jetzt ist er da! Am kommenden Sonntag (13.6.2021) geben wir bei der 2. Haaner Wiesenlust Gelegenheit, sich die Wiese am Rande von Gruiten aus der Nähe anzuschauen. Zum Abschluss noch ein paar Bilder von Schmetterlingen, die seit Anfang Juni 2021 auf der Ökowiese in Kriekhausen festgestellt wurden. Mit dem Handy abgelichtet, oder wie das heute heißt: out of cam, zum Durchklicken. Es muss ja nicht immer gleich ein Korallenriff sein, die Farben- und Formenvielfalt der einheimischen Arten ist ebenfalls phantastisch!

Literatur und Links:

Tim Laussmann, Armin Dahl & Armin Radtke (2021: Lost and found: 160 years of Lepidoptera observations in Wuppertal (Germany). Journal of Insect Conservation 25: 273–285

Dahl, Armin & G. Swoboda (2020): Ein Nachweis der Braungelben Leimkrauteule Luteohadena luteago (Denis & Schiffermüller, 1775) im Bergischen Land. Melanargia 32 (3): 150-154

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